Der Duktus eines Gefühls
Jara Lahme
Wir sehen einen Pinselstrich, eine Linie, die sich mit weiteren zu Flächen verbindet und Netze, Gitter und Rasterstrukturen auf der Leinwand spannt. In kontrastierender Farbigkeit greifen die Strukturen ineinander, verschwimmen und überlappen sich. Es entstehen pastose, reliefartige Werke, die ihre Tiefe und Verwobenheit von Formen und Farben innerhalb der prozesshaften Arbeitsweise des Künstlers Axel Plöger entwickeln.
Der erste visuelle Eindruck bewirkt die Kontaktaufnahme zwischen Betrachtenden und Werk auf der emotionalen
Erfahrungsebene. Erst ist es ein Gefühl, ein Interesse, eine Verbundenheit und eine Neugier. Durch wiederholte Betrachtung eröffnen sich immer andere Ebenen. Die Gitter, Netze und Öl-Scribbles ähneln dabei sich wandelnden, biologischen Organismen, welche sich durch Lichteinfall, Länge der Betrachtung und Entfernung zu bewegen und verändern scheinen. Zu der visuellen Verbindung kommen nun das räumliche Umhergehen und somit auch die physische Annäherung hinzu. Es tritt die Materialität in den Vordergrund und erweckt das Verlangen, die Finger auszustrecken und
die reliefartigen Strukturen anzufassen und somit mit allen Sinnen wahrzunehmen.
Die Reflexionen der persönlichen und umweltbeeinflussten Wahrnehmung des Künstlers, die in seinen Bildern Gestalt annehmen, werden für die Außenwelt durch die Betrachtung der Form zugänglich. Aus der geometrischen Abstraktion der Moderne entstanden, kann Abstrahieren die Reduktion von komplexer Umwelt auf die natürlichsten Formen wie Punkt, Linie und Fläche bedeuten. Kompositorisch miteinander verbunden gelingt dem Künstler eine Rückbesinnung auf die natürlichen Dichotomien, die sich im Spannungsfeld von Linie zu Punkt sowie Netz zu Fläche zeigen. Die „Klänge“, wie der Künstler diese wiederkehrenden Motive benennt, zeichnen sich letztlich durch Dissonanz und Harmonie, Ruhe und Sturm, klare Linien und wirres, wirbelndes Geflecht aus. Farbfläche und Form befinden sich trotz oberflächlich anmutender Gegensätzlichkeit stets in einem Spannungsverhältnis, welches sich in den Überlagerungen, Berührungen und Schichtungen von Formen und Farben beobachten lässt. Das malerische Spiel mit Dichotomien verweist auf die verschwimmenden Grenzen zwischen scheinbarer Gegensätzlichkeit: klare Akzente bewusst gesetzter Linien neben dominierend positionierten Rastern sowie ineinandergreifenden Formen, Farben und Linien, die sich in einen beinahe symbiotischen Zustand fügen. So kann durch eine längere und intensivere Betrachtung der Werke zunehmend mehr entdeckt werden. Das Aufweichen von Form- und Farbgrenzen lässt
ein ‚Zwischen‘ entstehen, welches als Versinnbildlichung von inneren Auseinandersetzungen fluider Seinszustände verstanden werden kann. Ob sich diese auf den Künstler beziehen lassen oder vielmehr den Moment der Begegnung zwischen Werk und Betrachtenden beschreibt, bleibt der Erfahrung jedes Einzelnen überlassen.
Im Ausdruck des Künstlers nimmt die Wahl der groben sowie feinen Linie eine bedeutsame Rolle ein – ob als bedächtig aufgetragener Pinselstrich oder schnell gezogene Linie eines großen Gitters oder wirren Geflechts. Sie können als malerische Interventionen in die Fläche verstanden werden und bilden durch ihren wiederkehrenden Charakter eine motivische Kontingenz für das Gesamtwerk. Im Œuvre der letzten Jahre lassen sich demnach Querbezüge zwischen den Werken herstellen, die vom Künstler intendiert nicht bloß ein visuelles Netz, sondern ebenso auf der Metaebene des Gesamtwerks eine dialogisch verwobene Netz-Werk Struktur bilden. Die Linie sowie der Akt des Malens, die prozesshafte Entwicklung und Akzeptanz von der Veränderung des Bildes weisen auf die Wertigkeit, die diesem reduziert wirkenden Ausdrucksmittel der Linie beigemessen wird. Sie avanciert in ihrer Einfachheit zum symbolischen Ausdrucksmittel der omnipräsenten Komplexität, wie bereits in der Formsprache der geometrischen Abstraktion. So stellt bereits der Soziologe Niklas Luhmann, als er seine Theorie der Liebe entwickelte, fest: „Der Weg zum Konkreten fordert den Umweg über die Abstraktion.“1 Die Reduktion der Form führt zur Konstruktion einer neuen, dennoch bereits bekannten, abstrakten Bildsprache, die keine Worte mehr benötigt, sondern auf visueller Wahrnehmung von Materialität und Farbigkeit basierend die Unklarheit und Vielfältigkeit der emotionalen Erfahrungswelt der Einzelnen hervorzubringen vermag. Die Betrachtung der Werke schließt demnach einen intimen und individuellen Moment der Verbindung mit dem konkreten malerischen Gegenüber ein, der uns Betrachtende reflektieren lässt, uns berühren kann und in Begegnung mit jedem Werk eine andere Erfahrung darstellt.
1. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1124), S. 10.